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Der Prozess gegen die Kunst

Die Anklage warf der Kunst Bestechlichkeit, unterlassene Hilfeleistung sowie vorsätzliche Täuschung vor und forderte die sofortige Ausweisung aus dem Labyrinth.

Die Kunst habe sich zu allen Zeiten an die herrschenden Schichten verkauft, zuerst an die Aristokratie, dann an die Bourgeoisie und zuletzt an die Konsumgesellschaft. Im Zeitalter des Feudalismus sei sie ihrer Aufgabe als Abbilderin der Wahrheit nicht nachgekommen, sondern habe vielmehr durch ihre widerwärtige Beschränkung auf religiöse Motive und Portraitierung der Aristokratie Tatsachen verschleiert. Dabei hätte ihr die damalige Unterdrückung der Massen durch Adel und Klerus, gerade mit Hilfe der Religion, bekannt sein müssen.

Stattdessen habe sie sich gewissenlos aushalten lassen und damit zu einem Schergen der Fürsten gemacht. Vor allem die Architektur müsse sich den Vorwurf gefallen lassen, durch gigantische, dekadente Prachtbauten die Menschen jeglichen Selbstbewusstseins beraubt, sie eingeschüchtert und erniedrigt zu haben. Denn die Massen hätten in regelrechten Slums gehaust, die jegliche menschenwürdige Bedingungen vermissen ließen.

Die Verteidigung räumte ein, es seien einige Versäumnisse vorgekommen, doch habe die Kunst ihrerseits über keinerlei Machtmittel verfügt, sei sie vielmehr selbst zu den Unterdrückten zu rechnen gewesen.

Die Anklage fuhr fort, die Kunst habe nach Entmachtung der Aristokratie in blindem Opportunismus ihr Fähnchen sogleich nach dem Winde der Bourgeoisie gehängt und sei in gleicher Weise verfahren wie bisher.

An dieser Stelle kam es zu Tumulten im Gerichtssaal, wobei Farbbeutel und andere Utensilien auf die Anklage geworfen wurden. Nach längerer Unterbrechung und zeitweiser Räumung des Saals wurde die Verhandlung fortgesetzt.

Letztere Darstellung sei völlig verdreht, hob die Verteidigung erregt an, denn gerade diese Epoche sei der Schritt zur moralischen Emanzipation und zu einem neuen Selbstbewusstsein der Kunst gewesen. Das landläufige Klischee des Künstlers als unverstandener und unverständlicher Einzelgänger, als verrücktes Genie beweise eindrucksvoll die Tatsache, dass eine Abnabelung von Herrschaftsstrukturen gelungen sei.

Dieser Einwand erntete wütendes Geschrei seitens der Anklage, die zurückschoss, gerade diese Abkapselung der Kunst sei ja wohl eine gesellschaftliche Fehlleistung ersten Ranges gewesen. Wieder habe sie sich der ihr zugedachten Aufgabe entzogen, gleichsam schmollend und introvertiert die Welt nicht mehr akzeptiert und sich in Traumwelten geflüchtet. Das Elend und die Ausbeutung hätten sie nach wie vor nicht berührt. Dieses Klischee des entrückten Künstlers sei doch im Interesse der Bourgeosie gewesen, die ihrem Wesen eines Emporkömmlings gemäß nichts mit der Kunst im Sinn gehabt, sondern diese eher als Relikt des Feudalismus gefürchtet habe. Bis auf das Großbürgertum, dass schon bald den aristokratischen Lebensstil nachahmte, habe das Kleinbürgertum die Kunst lieber in der Ecke der Lächerlichkeit und der Unnahbarkeit gesehen. Dort habe sie ja keinen Einfluss gehabt. Was wiederum beweise, dass die Kunst erneut an den Bedürfnissen der Gesellschaft vorbei operiert habe, worauf sie irrigerweise auch noch stolz sei.

Auf diese Worte hin sprang ein Vertreter der Verteidigung hinter seiner Bank hervor und konnte gerade noch daran gehindert werden, mit der Anklage handgreiflich zu werden. Das Publikum fing ein wütendes Geschrei an, das eine halbe Stunde anhielt.

Nach dem das Gericht den Saal wieder zur Ruhe gebracht hatte, fuhr die Anklage fort. Die Kunst habe zu Beginn der totalitären Systeme nicht einmütig Stellung gegen diese bezogen, sondern teils mit ihnen kollaboriert, teils eine Flucht vorgezogen.

Die Anklage erkenne zwar an, dass es in dieser Zeit einige Ausnahmen gegeben habe, in einer kurzen Epoche, als sich die Kunst ihrer Aufgabe anzunähern schien. Doch falle dies angesichts der Schwere der Schuld, die sie auf sich geladen habe, nicht ins Gewicht. Bald schon nämlich habe sie sich in dem irrigen Glauben, unabhängig geworden zu sein, in den Dienst der neuen Konsumgesellschaft gestellt und ihren Beitrag zur Massenverblödung geleistet. In dem sicheren Gefühl, Aktionsfreiheit erlangt zu haben, habe sie sich selbst ad absurdum geführt durch immer gewagtere, noch kurzlebigere Experimente, die alle dem ewigen Gesetz der Konsumgesellschaft, nämlich immer mehr und immer Neueres zu produzieren, gehorcht hätten. So habe sie sich in eine jämmerliche Sackgasse manövriert und ihres Selbstverständnisses beraubt. Schlimmer noch, habe die Kunst dem Labyrinth das Verständnis ihrer selbst genommen, da nicht einmal sie sagen könne, was sie sei.

Die Verteidigung erwiderte fassungslos, die Kunst selbst sei Opfer der Konsumgesellschaft geworden, die sie als billigen Ideenlieferanten missbraucht habe. Um dem entgegenzuwirken, habe sie bewusst extreme und unverständliche Richtungen eingeschlagen, um dem Zugriff der Konsumgesellschaft zu entgehen und diese zu karikieren, ja dieser einen Spiegel ihrer Hirnlosigkeit vorzuhalten.

Damit sei sie jedoch voll und ganz ihrer historischen Aufgabe nachgekommen. Überhaupt nehme sich die Bilanz der letzten Jahrhunderte außerordentlich erfolgreich aus. Heute operiere sie wie ein Guerillero im Tarnkleid und sei nicht mehr manipulierbar.

Daraufhin brach die Anklage in verächtliches Gelächter aus, dies sei reine Sophisterei. Nein, die Kunst habe versagt, vollkommen versagt, wofür die öffentliche Meinung, eben fälschlich als Unschuldsbeweis angeführt, beredtes Zeugnis ablege. Die Menschen seien der ewigen Ungewissheit hinsichtlich der Kunst überdrüssig. Deshalb, schloss die Anklage, müsse die Kunst ihren Hut nehmen und einer anderen Einrichtung weichen, die fortan mit ihrer Aufgabe betraut werde.

Die Verteidigung wies dies entschieden zurück und verlangte Freispruch, um ihre Arbeit erfolgversprechend fortsetzen zu können, sowie eine vollständige Rehabilitierung.

Nach diesem letzten Plädoyer kündigte das Gericht die Urteilsverkündung für den folgenden Morgen um 10 Uhr Labyrinthszeit an.


Gestern, um 10:32 Uhr Labyrinthszeit, hat die Kunst offiziell abgedankt. In der vergangenen Nacht wurden bereits erste Denkmäler zu Ehren der Kunst entfernt.

Diese Nachricht hat im Labyrinth chaotische Verhältnisse entstehen lassen. In einigen Sektoren kam es bereits zu Straßenschlachten zwischen Anhängern und Gegnern der Kunst, und eine Ausweitung der Unruhen ist nicht auszuschließen. Auch das ist nur ein weiteres Zeichen der allgemeinen Sprachlosigkeit, die sich zuletzt breit gemacht hat.

Wohin sich die Kunst wenden wird, ist zur Stunde noch unklar, auch wer oder was ihre Nachfolge antreten wird. Aus zuverlässigen Quellen war zu erfahren, dass kein Ersatz vorgesehen sei und man versuchen wolle, erst einmal ohne die Kunst im Labyrinth zurechtzukommen.

Milos Boniek, 1988


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